Das Coronavirus ist ein Charaktertest

17 Mrz 2020

Übernehmt endlich Verantwortung! – Jeder von euch!

Was in der letzten Woche in der europäischen Union, auch hier bei uns in Deutschland, geschehen ist, war für die Meisten zuvor undenkbar: Schulen und Kitas werden geschlossen. Das Gleiche gilt für Museen, Cafés, Bars und Geschäfte, die Waren verkaufen, die nicht für das Überleben notwendig sind. Öffentliche Veranstaltungen werden abgesagt. Fußballspiele finden zunächst ohne Zuschauer statt, bevor sich die Verantwortlichen dazu entscheiden, die derzeit laufenden Wettbewerbe allesamt zu unterbrechen. Wir Bürger werden dazu angehalten, keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr zu benutzen, unseren Mitmenschen nicht mehr die Hand zu reichen oder sie gar zu umarmen. Die meisten Experten raten nun sogar dazu, dass wir unsere Häuser nicht mehr verlassen.

Uns allen stehen höchstwahrscheinlich ein paar schwere Monate bevor, in denen wir unser Leben erheblich einschränken und soziale Kontakte auf ein Minimum reduzieren müssen. Für unsere Gesellschaft, die das Privileg hat, in einem freiheitlichen, demokratischen Land leben zu dürfen, werden die nächsten Wochen vermutlich eine harte Bewährungsprobe. Verzicht in einem derartigen Ausmaß zu üben, ist etwas, was ein Großteil der Bevölkerung, einmal absehen von der Kriegsgeneration und einigen anderen Ausnahmen, nie wirklich gelernt hat.

Hinzu kommt: Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen. Keinen Kontakt zu seinen Mitmenschen haben zu dürfen, ist daher eine Forderung, die sich zwar leicht umsetzbar anhört, dies aber keinesfalls ist. Dennoch müssen wir alle uns dieser Herausforderung stellen und etwas tun, was wir eigentlich nicht gewohnt sind: Verzichten! Selbst nachdem die Medien seit nunmehr 2 Wochen detaillierte Aufklärungsarbeit über das Coronavirus betreiben, höre und lese ich manchmal immer noch Aussagen wie

  • „Ich bin jung. Für mich ist das alles sowieso nicht gefährlich.“
  • „Die Leute sterben auch an der normalen Grippe. Darüber spricht auch niemand.“
  • „Die Medien und unsere Politiker verbreiten unnötige Panik.“

Schaut man sich die Fakten an, sind solche Aussagen (zumindest für mich) nicht nachvollziehbar. Für derartige Meinungsäußerungen kann es eigentlich nur zwei Gründe geben:

  1. Man ist nur oberflächlich informiert und weiß somit gar nicht, worüber man eigentlich spricht.
  2. Man redet sich selbst ein, dass die Situation doch gar nicht so schlimm sein kann, weil man keinen Verzicht üben möchte.

Lasst uns an dieser Stelle einen ganz kurzen Blick auf die Fakten werfen:

  1. Das Coronavirus ist deutlich tödlicher als die Grippe! Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Sterblichkeitsrate bei Infektionen mit dem Coronavirus derzeit bei 3,4%. Bei der jährlich auftretenden Influenza (Grippe) geht man von einer Letalitätsrate zwischen 0,1% und 0,2% aus. Das Coronavirus ist also 20 bis 30 Mal tödlicher als die hierzulande auftretenden Grippeviren. Wichtig ist hier noch, zu erwähnen, dass es derzeit schwierig ist, die genaue Sterblichkeitsrate des Coronavirus zu ermitteln, da man hierfür konsequent testen müsste. Zum jetzigen Zeitpunkt werden hauptsächlich Patienten mit Fieber und starken Atemwegsbeschwerden auf das Virus hin untersucht. Das bedeutet: Wir wissen nicht, wie viele Menschen mit leichten oder mittelschweren Erkältungssymptomen an Corona leiden. Eines kann aber dennoch sicher gesagt werden: Das Coronavirus ist deutlich gefährlicher als die Grippe!
  2. Das Coronavirus verbreitet sich nicht linear, sondern exponentiell! Bei einem linearen Wachstum gäbe es in einem festen Zeitraum eine gleichbleibende Anzahl von Neuinfektionen, was beispielsweise bedeuten könnte: Es gibt jede Woche 1000 neue Fälle. Würde sich das Coronavirus auf diese Art und Weise verbreiten, gäbe es keinerlei Grund zur Besorgnis, denn unser Gesundheitssystem käme dadurch nicht an seine Grenzen. Leider aber verbreitet sich das Virus nicht linear, sondern exponentiell. Hier kommt es in einem bestimmten Zeitraum zu einer Vervielfachung der Neuinfektionen um einen bestimmten Faktor. Beim Coronavirus geht man derzeit davon aus, dass sich die Anzahl neuer Fälle ohne entsprechende Vorkehrungsmaßnahmen alle paar Tage verdoppelt. Schauen wir uns das Ganze doch einfach einmal anhand eines kleinen Beispiels an: Angenommen, wir würden mit 10 Infizierten starten und die Fallzahl würde sich alle drei Tage verdoppeln. Somit gäbe es nach den ersten drei Tagen 20, nach sechs Tagen 40 und nach 9 Tagen 80 Fälle. Noch überschaubar, richtig? Was ist aber nach zwei Monaten, also 60 Tagen? 60/3 ergibt 20. Ohne den Rechenweg jetzt genau zu erklären, sieht die Lösungsfunktion wie folgt aus: N (Anzahl der Fälle) = 220 * 10 = 10.485.760. Nach 60 Tagen gäbe es ohne Vorkehrungsmaßnahmen also über 10 Millionen Infizierte! Jetzt muss hierbei natürlich beachtet werden, dass innerhalb dieser 60 Tage auch Menschen wieder gesunden würden. Bei diesem Beispiel ging es mir aber vor allen Dingen darum, aufzuzeigen, was exponentielles Wachstum eigentlich bedeutet.
  3. Je besser unser Gesundheitssystem mit der Fallzahl zurechtkommt, desto geringer wird die Sterblichkeitsrate sein! Die exponentielle Verbreitung des Coronavirus sorgt dafür, dass unser Gesundheitssystem ohne Vorkehrungsmaßnahmen irgendwann an seine Grenzen stoßen würde. Das muss um jeden Preis verhindert werden und wir alle können unseren Beitrag dazu leisten, dieses Szenario zu verhindern. Wollt ihr, dass die Ärzte hierzulande entscheiden müssen, wer ans Beatmungsgerät kommt und wen man einfach sterben lässt? Wollt ihr, dass irgendwann nicht mehr genug Medikamente da sind, um die schwer verlaufenden Fälle symptomatisch zu behandeln? Ich denke nicht!
  4. Wer selbst nicht zu einer Risikogruppe gehört und vielleicht gar keine oder nur leichte Symptome bei einer Infektion mit dem Erreger verspürt, kann ihn trotzdem weitergeben und gefährdet somit andere! Das ist ein ganz entscheidender Punkt! Das Argument „Ich bin ja noch jung und gesund und daher nicht gefährdet.“ zählt hier nicht. Es ist an der Zeit, endlich zu verstehen, dass es hier nicht nur um den Einzelnen geht. Wir können diesen Kampf gegen einen unsichtbaren Feind nur gewinnen, wenn wir zusammenhalten und uns solidarisch verhalten. Das heißt: Auch wenn man selbst nicht gefährdet ist, sollte man so viel Sozialkompetenz aufbringen, sich dennoch vernünftig zu verhalten und Verzicht zu üben, um seine Mitmenschen nicht zu gefährden! Was ist z.B. mit euren Eltern und euren Großeltern? Vielleicht habt ihr ja auch Freunde, die zu einer Risikogruppe gehören, weil sie beispielsweise an einer chronischen Autoimmun- oder Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden? Möchtet ihr diese Menschen wirklich gefährden, nur weil ihr es nicht schafft, einige Wochen zu Hause zu bleiben?

Die vier soeben aufgeführten Punkte sollten jedem klar machen, dass es uns gelingen muss, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen und zwar genau jetzt, wo dies noch möglich ist! Wir können unsere Gesellschaft, allen voran die Alten und Kranken, nur schützen, wenn wir alle unseren Teil dazu beitragen, dass sich die Ausbreitung des Virus verlangsamt, damit unser Gesundheitssystem nicht kollabiert. Stellt sich als Nächstes die Frage: Was kann jeder Einzelne konkret tun? Nun, genau die Dinge, die die Experten uns seit zwei Wochen versuchen „einzutrichtern“:

  • Bleibt, wenn möglich, zu Hause, damit ihr euch nicht anstecken und somit den Erreger auch nicht an andere weitergeben könnt.
  • Falls ihr unbedingt das Haus verlassen müsst (beispielsweise um Lebensmittel einzukaufen): Vermeidet Menschenansammlungen und haltet mindestens zwei Meter Abstand zu euren Mitmenschen.
  • Vermeidet, wenn möglich, direkten Körperkontakt mit anderen Menschen.
  • Wascht euch oft und lange die Hände (mindestens 30 Sekunden), um Erreger darauf abzutöten.
  • Fasst euch möglichst nicht ständig mit den Händen ins Gesicht, denn das Virus kann erst in euren Körper eindringen, wenn es mit den Schleimhäuten (z.B. an Mund und Nase) in Berührung kommt.
  • Haltet euch ganz besonders von Personen fern, die zu einer Risikogruppe gehören, wie beispielsweise Patienten mit einer Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankung sowie älteren Menschen.

All diese Dinge sind wichtig, um euch und andere zu schützen. Nochmals: Es geht hier nicht nur um euch selbst! Es geht um uns alle! Es geht um unsere ganze Gesellschaft! Wenn ich sehe, dass sich Menschen bei einem Fußballspiel, das zum Schutz der Bevölkerung vor leeren Rängen ausgetragen wird, vor dem Stadion versammeln, obwohl das Ziel der Aktion war, Massenansammlungen zu vermeiden, ist das für mich an Unvernunft nicht mehr zu überbieten! Für Leute, die „Corona-Parties“ veranstalten, nur weil sie es nicht ertragen können, einmal mehrere Wochen keinen Club zu besuchen, gilt das Gleiche. Ich sage es ganz direkt: Ihr alle habt keinerlei Verantwortungsgefühl!

Worüber diskutieren wir hier eigentlich?

Das ist eine sehr gute Frage. Die Antwort lautet: Wir diskutieren darüber, ob es wichtiger ist, Menschenleben zu schützen, oder Verzicht zu üben. Unser Verein „MCAS Hope e.V.“ unterstützt Patienten, die an einem Mastzellaktivierungssyndrom, kurz MCAS, erkrankt sind. Glaubt mir: Das, worauf ihr jetzt vielleicht acht bis zwölf Wochen verzichten sollt, sind Dinge, auf die viele MCAS-Betroffene immer verzichten müssen. Einem Großteil der Patienten geht es so schlecht, dass sie ihr Haus kaum verlassen und keinerlei soziale Kontakte wahrnehmen können und zwar nicht nur für zwölf Wochen, sondern stetig, also: nie! Ihre Symptomatik kann sich durch Faktoren verschlechtern, über die ein Gesunder nicht eine Sekunde lang nachdenken würde. So reagieren viele MCAS-Patienten auf unterschiedlichste Gerüche und Düfte mit anaphylaktoiden Reaktionen und/oder anaphylaktischen Schocks. Konkret bedeutet das im Alltag beispielsweise: Man kann sich nur noch mit Atemschutzmaske aus dem Haus wagen (auch in Zeiten ohne Corona) und muss ständig aufpassen, dass man nicht in Menschenansammlungen gerät oder stark parfümierten Leuten zu nahe kommt. Der Grund: Solche Dinge können unter Umständen lebensbedrohlich sein!

Versteht ihr, was ich euch sagen will? Die Dinge, auf die wir alle jetzt einige Wochen verzichten sollen, sind Dinge, auf die MCAS-Patienten und Menschen, die an diversen anderen Krankheiten leiden, ständig verzichten müssen. Es geht aber noch weiter: Wir gefährden solche Risikogruppen, wenn wir es nicht schaffen, uns jetzt „zusammenzureißen“ und vorübergehend Verzicht zu üben. Jeder von uns trägt hier eine Mitverantwortung!

Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass soziale Isolation und Verzicht alles andere als schön sind. Ich war selbst sieben Jahre lang bettlägerig. Seit einem Jahr bin ich nun dabei, langsam wieder auf die Beine zu kommen. Dennoch: Ich bin nach wie vor deutlich eingeschränkt. Zwölf Wochen, ja sogar 26 Wochen, sind eine überschaubare Zeit. Lasst uns jetzt zusammenhalten und die Schwächeren in unserer Gesellschaft schützen. Unser Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „In der Krise beweist sich der Charakter.“ Die Corona-Pandemie ist ein Charaktertest. Um ihn zu bestehen, sind nur zwei Dinge nötig: Verzicht zu üben und sich solidarisch zu verhalten. Zusammen können und werden wir das schaffen!

In diesem Sinne: Passt auf euch und eure Mitmenschen auf! Bleibt oder werdet gesund!

Herzlichst

Euer Jean-Pierre Klöcker