Der zentrale Begriff dieser Tage

28 Apr 2020

Freiheit! Solange ich mich zurückerinnere, war Freiheit für mich immer ein ganz besonders wichtiger Aspekt eines menschenwürdigen Lebens. Im Alter von etwa einem Jahr wollte mich meine Mutter motivieren, laufen zu lernen, aber ich hatte dazu keine Lust. Ich krabbelte lieber noch monatelang störrisch weiter auf allen Vieren. Als Kind habe ich mit einem Freund zusammen den höchsten Baum im Wald dazu erkoren, unser Baumhaus zu tragen, um über alle anderen Wipfel blicken zu können. Und während meines Wehrdienstes wurde mir bereits nach kürzester Zeit klar, für wie falsch ich das Prinzip von Befehl und Gehorsam hielt.

Dabei ist es gar nicht so einfach, sich dem, was Freiheit eigentlich ist, aus der individuellen Perspektive zu nähern, denn die Freiheit des Einzelnen steht immer auch in Wechselwirkung mit der Freiheit der Anderen. Freiheit wird in unserem Rechtssystem als Handlungsfreiheit verstanden, in der das Handeln eines Menschen seinem Willen entspricht. Sobald der Wille zweier Personen in Bezug auf eine Sache nicht übereinstimmt, ergibt sich zwangsläufig eine Situation, in der mindestens einer der beiden Beteiligten eine Einschränkung seiner Freiheit erfährt.

Besonders deutlich wird dieses Spannungsfeld am Beispiel von Extremen. Betrachten wir einen Herrscher, der absolute Macht besitzt: Dem französischen König Ludwig XIV wird der Ausspruch „l’ etat c’est moi“, zu Deutsch, „Der Staat bin ich“, zugeschrieben. Egal, ob er dies nun wirklich gesagt hat oder nicht: Er besaß die Macht, jegliche Gesetze zu erlassen und Urteile fällen zu lassen, die seinem Willen entsprachen. Er war damit in der Position, über alle möglichen Lebensbereiche seiner Untertanen und sogar deren Tot frei zu entscheiden. Seine Untertanen hingegen besaßen allesamt nur sehr wenig Freiheit, über ihre Geschicke zu bestimmen.

Würde man der Freiheit jedes Einzelnen einen Zahlenwert zuordnen, um diese zu quantifizieren und läge dieser Wert bei Ludwig XIV beispielsweise bei 100 (gleichzusetzen mit 100%iger, absoluter Freiheit), so läge der Wert seiner Untertanen sicher bei deutlich niedrigeren, vielleicht sogar nur einstelligen Werten, zum Beispiel bei 5. Betrachten wir nun die Freiheit der gesamten Gesellschaft, die im Frankreich des Jahres 1700 bestand, so geht Ludwig XIV als Einzelperson mit seinem Spitzenwert von 100 in die Summe ein und seine 21,5 Millionen Untertanen jeweils mit einem Wert von 5. Daraus ergibt sich für die durchschnittliche Freiheit eines Individuums im damaligen Frankreich dennoch nur ein Wert, der quasi 5 entspricht ([21.500.000*5+1*100]/21.500.001 = 5,0000044).

Sprich: Die absolute Freiheit eines einzelnen Individuums trägt nur extrem wenig zur Freiheit der Gesellschaft als Ganzes bei. Jedoch kann eine Freiheitseinschränkung, die nur von wenigen Personen mit entsprechender Macht ausgeht, die Freiheit einer sehr großen Anzahl anderer Personen sehr drastisch einschränken, sodass die gesamtgesellschaftliche Freiheit hierdurch sehr deutlich leidet.

In einer Zeit, in der die Welt vernetzter ist denn je, in der Arbeitsleistungen, Güter und Waren global hergestellt und gehandelt werden, sind die Auswirkungen unseres Handelns zudem ebenfalls global zu betrachten. Als Verbraucher können wir uns beispielsweise die Freiheit nehmen, an Stelle eines einzelnen, hochwertigen Baumwoll-T-Shirts, das dreißig Waschgänge überlebt, zehn sehr günstige Baumwoll-T-Shirts zu kaufen, die jeweils nur drei Waschgänge überleben, weil wir das spannender und weniger langweilig finden. Der Kaskade von Freiheitseinschränkungen für andere Menschen, die dies zur Folge haben kann, sind wir uns oft nicht bewusst.

Da sind zum einen die Menschen, die in Ländern wie Bangladesch solch billige Waren zu einem sehr niedrigen Kostensatz herstellen müssen und dabei teilweise in extremen Abhängigkeitsverhältnissen leben, welche sich nicht wesentlich von denen im Frankreich des Jahres 1700 unterscheiden. Diesen Menschen stehen oft nur sehr wenigen Mächtigen gegenüber, die vom Warenverkauf tatsächlich profitieren.

Zum anderen ist an dieser Stelle auch noch der erhöhte Ressourcenverbrauch zu nennen, den die Produktion von dreißig statt nur einem T-Shirt zur Folge hat. Während der notwendige Wasserverbrauch und Ackerflächenbedarf unverzüglich zu Buche schlägt und damit ebenfalls irgendwo auf dieser Welt Freiheiten anderer Menschen einschränkt, sind auch langfristige Effekte, wie der durch den höheren Energieverbrauch beschleunigte Klimawandel zu nennen, der die Freiheit und den Handlungsspielraum späterer Generationen reduziert.

Wenn man es bis in seine letzten Konsequenzen durchdenkt, läuft nahezu jede Freiheit, die ich mir als Individuum nehme, unmittelbar oder mittelbar auf eine Freiheitseinschränkung von anderen Menschen hinaus. Manchmal mag der Effekt nur marginal oder unser individueller Anteil daran nur minimal sein. Mitunter kann unsere individuelle Entscheidung jedoch sehr erhebliche Folgen haben, zum Beispiel dann, wenn Quarantäne-Vorschriften während einer Pandemie von Einzelnen einfach ignoriert werden.

Sehr verkürzt gesprochen sollten wir nicht nur sagen: „Ich nehme mir die Freiheit, dieses oder jenes zu tun.“ Wir sollten ehrlicherweise sagen: „Ich nehme mir diese Freiheit und nehme sie damit (zumindest zu einem Teil) jemand anderem weg!“

Ich glaube, wenn uns dieses Bewusstsein häufiger bei unseren Entscheidungen begleiten würde, wäre die Welt insgesamt eine freiere Welt als die, die wir heute sehen. Eine möglichst hohe Summe der Freiheiten aller Individuen ist nur dann zu erreichen, wenn wir alle den jeweils anderen möglichst wenige ihrer Freiheiten entziehen. Und das führt zu einem fast paradox klingenden Schluss:

Je weniger jeder Einzelne auf seine individuellen Freiheiten pocht, desto freier ist eine Gesellschaft insgesamt (wobei mein Begriff von Gesellschaft hier nicht unbedingt an Landesgrenzen haltmacht und durchaus auch durch den Begriff Menschheit ersetzt werden könnte).

Sich mit weniger zufrieden zu geben und Solidarität zu zeigen, sind für mich daher stärkere Schlüssel zu einer freieren Gesellschaft (und Menschheit), als es eine Reduzierung von Regeln je sein könnte. Der Weg zu mehr Freiheit eines jeden ist damit nämlich nicht nur davon abhängig, was Mächtige, Regierungen und Rechtssysteme von uns verlangen, sondern vielmehr davon, ob jeder Einzelne von uns jeden Tag solidarische Entscheidungen trifft und auf freiwilliger Basis auch einmal Verzicht übt.

Wir alle können dazu einen Beitrag leisten – Nicht nur jetzt in der Corona Krise, um Ältere, chronisch Kranke oder andere Risikogruppen zu schützen, sondern jeden Tag.

Setzt euch bitte für Freiheit in diesem Sinne ein und bleibt gesund!

Euer

Meinolf Levermann