Fehldiagnosen in der Krankenvita – was nun?
09 Aug. 2021Heute hat unsere liebe Sonja, die ihre MCAS-Story ebenfalls unter der Rubrik ‚Betroffenengeschichten’ geschildert hat, einen interessanten Blogartikel für euch verfasst. Sie hat sich mit dem Thema Fehldiagnosen in der eigenen Krankenakte beschäftigt und möchte euch u.a. folgende Fragen beantworten:
- Kann ich an der Dokumentation der Ärzte etwas ändern?
- Was nutzt mir eine Patientenquittung?
- Was verändert sich durch die elektronische Patientenakte?
- Wie gehe ich vor, wenn ich etwas aus der Akte streichen lassen möchte?
Lest hier direkt weiter!
Wie Falschdiagnosen jetzt endlich aus unserer Krankenvita verschwinden könnten

Wer schon einmal eine falsche Diagnose bekommen hat, oder sich zumindest bereits über eine zweifelhafte Psychodiagnose im Befund geärgert hat, sollte diesen Blog-Artikel bis zum Ende lesen, denn es gibt jetzt Hoffnung. Zumindest die „Somatisierungsstörung“ werden viele Mastzellpatienten schon in ihrer Krankenvita haben. Und wir kennen Sätze von Ärzten wie “So viele Symptome kann eine Krankheit alleine gar nicht machen.“ Doch, kann sie, wie wir ja leider zu genau wissen. Und das schlägt sich oft in der Vielzahl an (Falsch)-Diagnosen wieder.
Ein Patientendatenschutzgesetz und die Vorteile der ePA
Wenn ich euch jetzt eine kleine Geschichte aus meinen medizinischen Erlebnissen erzähle, dann um euch neue rechtliche Entwicklungen näher zu bringen, die uns helfen können, mit dem Thema „Falschdiagnosen“ in Zukunft besser umzugehen. Die neue Regelung kam im Zuge der elektronischen Patientenakte (ePA), die seit Anfang Juli im Roll-Out ist, das heißt: Einer breiten Masse zur Verfügung gestellt werden soll. Zur Vorbereitung dieser ePA wurde ein Patientendatenschutzgesetz geschaffen, dass auch einige vorteilhafte Änderungen in punkto Falschdiagnosen brachte. Denn eines ist ja klar: Wer die ePA hat sieht schneller, was die Ärzte über ihn schreiben. Und natürlich bringt die ePA (in Form einer App) uns einen weiteren Vorteil: Auch ein Notfalldatensatz kann darin hinterlegt werden. Das finde ich persönlich eine große Erleichterung, denn dann kann ich die Notfallzettel im Kühlschrank und im Auto endlich wegwerfen.
Ich kann bei der Kasse eine Patientenquittung anfordern
Wenn ich bei meiner persönlichen Geschichte damit beginne, dass ich sogar mal die gesicherte Diagnose einer tödlich verlaufenden degenerativen Nervenerkrankung bekam, ist mein gleich folgendes Beispiel ein sehr harmloses, alltägliches. Ich hatte im Falle des „Todesurteils“ auf einer Krankschreibung damals bei der Krankenkasse eine so genannten „Patientenquittung“ angefordert. Darin stehen alle Diagnosen, welche die Ärzte abgerechnet haben. Diese „Quittung“ darf jeder über sich anfordern. Nur wissen viele nichts davon. Ich erfuhr von dieser Möglichkeit von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Meine degenerative Nervenerkrankung steht immer noch in dieser Quittung. Das kann ich jetzt vielleicht endlich ändern.
Auch ein Gespräch mit dem Arzt kann helfen
In meinem aktuellen und vergleichsweise harmlosen Fall, besuchte ich einen potenziell neuen Hausarzt. Ich schilderte ihm (an dem Tag nervös und verzweifelt versuchend mich irgendwie kurz zu fassen, aber doch alles anzugeben) meine Krankengeschichte. Er war sichtlich in Zeitnot, wollte keine Befunde haben, sondern notierte alles direkt in den PC. Bei einer anschließenden privaten Akupunktur-Behandlung warf ich fast gezwungenermaßen einen Blick in den großen Monitor, der mir direkt ins Gesicht schien und da stand in meinem Datenblatt nun neben ein paar anderen stimmigen Vor-Erkrankungen: „Hepatitis“, die ich definitiv NICHT gehabt hatte. Außerdem noch ein paar sehr tendenziöse Schilderungen über meine Person, gefolgt von einer gesicherte F-, also Psychodiagnose (und zwar eine, die ich noch nie gehört hatte). Ich sprach den Arzt erst mündlich darauf an. Meine Akupunktur- Behandlung wurde daraufhin abgebrochen und die Nadeln immerhin fast vollständig wieder entfernt. Der Arzt räumte Fehler ein. Ergebnis des anschließenden Schriftverkehrs: Die Psychodiagnose wurde auf Verdachtsstatus geändert, die Hepatitis, die ich nie hatte, blieb mir aber erhalten.
Neuer Anspruch auf Änderung von Falschdiagnosen
Meine Ausgangsfrage lautete: Was kann ich jetzt tun? Dem ging ich nach. Bisher galt eine Arztdiagnose als eine Art unveränderliches Dokument seiner persönlichen Einschätzung. Seit Oktober letzten Jahres wurde nun im Vorfeld der Einführung der ePA im Sozialgesetzbuch 5, §305 Abs.1 ein neuer Passus eingeführt. Dieser besagt konkret, dass man gegenüber seiner Krankenkasse grundsätzlich nun einen Anspruch auf Änderung einer falschen Diagnose hat, die der Arzt der Krankenkasse mit seiner Abrechnung übermittelt hat. Achtung: Diesen Anspruch hat man NUR gegenüber den Krankenkassen und nach wie vor NICHT gegenüber dem Arzt! (Das Rechtsverhältnis zum Arzt ist im BGB geregelt, das Verhältnis Patient – Krankenkasse im fünften Sozialgesetzbuch. Hier sind auch andere Gerichtsbarkeiten zuständig). Das klingt doch erstmal nach einem tollen Weg.
Die Umsetzung könnte schwierig werden
Aber wie bei vielem, so gibt es auch hier einen „Pferdefuß“: Ich muss die Unrichtigkeit der Diagnose durch einen ärztlichen Nachweis belegen. Konkret bedeutet das: Ich muss den Diagnose stellenden Arzt bitten, mir die Unkorrektheit seiner Diagnose schriftlich zu bestätigen. Jedem von uns wird sofort klar, was das bedeutet. „Das könnte problematisch sein, man kann den Arzt nicht zwingen; einen Rechtsanspruch hat man nicht“, erläutert auch Anja Lehmann, Juristin bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) im Gespräch mit mir. In diesem Fall könne ich aber auch zu einem anderen Arzt gehen und mir den entsprechenden Nachweis zu holen. Uns wird auch hier klar: Auch das könnte ebenfalls schwierig werden. Welcher Arzt beschuldigt einen anderen der Falschdiagnose. Aber wenn das doch passiert, stellt man mit diesem Schriftstück dann den Antrag bei seiner Krankenkasse mit Bitte um Korrektur. Danach ist die Kasse verpflichtet, den Antrag innerhalb von vier Wochen zu bescheiden.
Die leidigen Psycho-Diagnosen
Und was ist mit den Psycho-Diagnosen? „Das hören wir auch sehr oft, dass irgendwelche Psycho-Diagnosen mit abgerechnet werden“, erläutert Lehmann. Das Thema komme relativ häufig vor in der Beratung durch die UPD, nicht selten auch bei Gynäkologen. Die Frauen öffnen sich in diesem Zusammenhang wahrscheinlich schnell mal und haben auch mal hormonelle Schwankungen. Da kann der Gynäkologe auch eine „depressive Episode“ draus machen. „Sowas kann auch Schwierigkeiten machen – beispielsweise beim Abschluss einer Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung“, erklärt Lehmann. Für den Arzt ist es jedoch ist eine zusätzliche Einnahmequelle. Wie eine Psycho-Diagnose nochmal zu korrigieren ist, dafür gibt es sicher kein Patentrezept. In meinem Fall habe ich durch ein Gespräch immerhin bewirken können, es auf den Verdachtsfall zu reduzieren.
Verschlimmern von Diagnosen für die eigene Tasche
Ein anderes Beispiel für die Praxis der Ärzte, die sich damit in die Nähe von Abrechnungsbetrug bringen: Krankheiten können auch schlimmer gemacht werden, weil man dafür mehr abrechnen kann. Zum Beispiel wurde aus einem allergischen Schnupfen ein „Asthma“. Oder wie in meinem Fall damals: Aus einer unklaren neurologischen Symptomatik wurde eine „Motoneuronen Erkrankung“ (was in dem Fall sogar zu einem Behandlungsfehler hätte gerechnet werden können, weil es extreme Folgen für mich hatte).
Anfragen zum Thema „Falschdiagnosen“ kamen in letzter Zeit sehr häufig auch beim Bundesdatenschutzbeauftragen vor. Die Einschätzung der UPD „Das könnte in Zukunft zurückgehen“, und zwar durch die Transparenz, welche die ePA schafft. Ärzte könnten vorsichtiger werden. „Das wäre schön, wenn das dazu führen würde“, so Lehmann. Wir würden uns auch sehr freuen. Allerdings müssen wir dafür natürlich erstmal die Voraussetzung schaffen, dass das Mastzellaktivierungssyndrom offiziell in den ICD Code aufgenommen wird. Wir bleiben dran!
Sonja