Die elektronische Patientenakte: Alles kann – nichts muss
30 Aug 2021Für uns Mastzell-Patienten kann die ePA Leben retten
Vor ein paar Wochen flatterte ein Brief von meiner Krankenkasse bei mir rein. Mein erster Gedanke nach kurzem Überfliegen des Inhalts: Ah, jetzt wird es Ernst mit der elektronischen Patientenakte, von der wir alle irgendwie schon mal gehört haben. Seit Januar müssen die Krankenkassen in Deutschland ihren Kunden nämlich diese so genannte ePA anbieten; offizieller Start war im Juli. Das Ganze lief sehr langsam bis es so weit war, denn der Beschluss dazu fiel schon vor 16 Jahren im Bundestag. Das ist gute deutsche Gründlichkeit, rede ich jetzt beruhigend auf mich selbst ein. Da wir bei dieser Digitalisierung Schlusslicht in Europa sind, haben wir sicher aus den Fehlern der anderen gelernt. Stimmt das?
Bin ich ein deutscher Bedenkenträger?
Bei meinen Überlegungen merke ich schnell: Irgendwie scheine auch ich eher „typisch deutscher Bedenkenträger“ zu sein, denn das Schreckgespenst vom „Gläsernen Patienten“ war sofort in mir geweckt und flatterte kettenrasselnd durch mein Gehirn. Aber ich hatte mich mit dem heiß diskutierten Thema noch nicht wirklich auseinandergesetzt. Und siehe da, schon meine erste Annahme war falsch: Flächendeckend, und vor allem unaufgefordert, bekomme ich die ePA gar nicht angeboten. Nach einem Telefonat mit meiner Kasse war schnell klar: Sie wollen nur ein Lichtbild für meine elektronische Patientenkarte. Und diese sei NICHT gleichzeitig die Elektronische Patienten AKTE (ePA). Wenn ich die ePA haben wolle, müsse ich diese extra beantragen.
Erstmal muss ich mir das überlegen
Zack! Panikmodus wieder aus. Da hatte mein Mastzell-Hirn einen Schnellschuss gemacht. Für den Antrag der ePA muss ich nämlich erstmal die ePA App meiner Krankenkasse in einem App Store herunterladen, mich legitimieren, und ich brauche außerdem eine elektronische Patientenkarte mit einem PIN Brief sowie im Moment noch ein Smartphone. So einfach geht das alles also nicht. Und vorher muss ich mir natürlich gut überlegen: Will ich das jetzt überhaupt und was bringt mir das in meinem Fall als chronischer Patientin? Um es gleich vorweg zu nehmen: Für uns als Mastzellerkrankte kann das schon ein paar entscheidende Vorteile bringen.
Aber zuerst war da meine Sorge: Kann dann jeder Arzt künftig meine ganze Krankengeschichte lesen, nebst zahlreichen Verdachtsdiagnosen und kiloweise Unterlagen mit Berichten aus Notfallambulanzen? Die Befürchtung war schnell ausgeräumt. Ich lerne: Mit der ePA entscheide ich selbst, welche Dokumente ich hoch lade und welche mein Arzt. Und ich darf sogar Berechtigungen freischalten, wer was in meinem persönlichen Gesundheitsnetz wie lange einsehen darf. Das heißt konkret: Ich habe volle Kontrolle über meine Daten und das nennt sich „Patientensouveränität“.
Der Notfalldatensatz überzeugt mich
Was mich als Mastzellpatient sofort überzeugt: Ich kann auf der ePA einen Notfalldatensatz hochladen. Und sogar eine Patientenverfügung oder zumindest den Aufbewahrungsort für den Notfall hinterlegen, der hoffentlich nicht eintritt. Gerade dieser Notfalldatensatz ist für MCASler ein großer Vorteil und kann Leben retten. Egal ob wir wegen eines Unfalls schnell in den OP müssen, ob unsere Mastzellen einen schweren Schub verursachen oder wir eine Anaphylaxie haben. Es scheint mir von unschätzbarem Wert hier alle Unverträglichkeiten und auch Medikamentenpläne in der App hinterlegen zu können. Der Weg, den ich bisher vorsorglich gewählt hatte, war kompliziert: Auf meiner Haustür klebt ein grünes Kreuz, ebenso auf dem Kühlschrank, um Rettungskräften den Weg zu meinen Notfalldokumenten (im Kühlschrank) zu weisen. Es ist ein altmodisches und unzuverlässiges Hilfesystem.
Schnell merke ich auch, dass wir an der ePA in Zukunft gar nicht mehr vorbei kommen werden: Ab 2022 sollen darin Standardformulare wie Impfpass, Zahnarzt-Bonusheft etc. enthalten sein, die auch allen Gesunden und nicht nur chronischen Patienten ihre Vorsorge erleichtern sollen. So viel technischer Aufwand lohnt sich nur, wenn unsere Bundesregierung davon überzeugt ist, dass sie irgendwann auch jeder nutzen wird, so denke ich mir.
Orientierungsgespräch mit dem Hausarzt ist wichtig
Doch zunächst ist da mal meine Frage: Was lade ich überhaupt in die ePA hoch? Hier ist es wohl wichtig, sich erstmal mit seinem Hausarzt zu beraten. Sinnvoll sind zum Beispiel Laborwerte. Und hier auch die Normaldaten, um Abweichungen schneller zu erkennen. Außerdem gehören der Medikamentenplan und wichtigste / letzte Befunde rein. So kann ich mir bei einem Arztwechsel oder Facharztbesuch, die bei uns chronischen Patienten lange, aber nötige, Vorgeschichte sparen. Das bringt Pluspunkte und erspart uns diese oft etwas genervten Blicke und etwaigen tendenziösen Einträge schon in der frischen Akte des neuen Behandelnden.
Gleichzeitig habe ich eine hohe Missbrauchs-Sicherheit durch die Kontrolle meiner Daten. Auch die Krankenkasse hat keinen Zugriff darauf. Das klingt nach Transparenz, nach dem Motto: „Alles kann, nichts muss“. Künftig ist allerdings geplant, dass ich meine Daten anonymisiert für die Forschung zur Verfügung stellen kann, um langfristig die Versorgung zu verbessern. Auch das könnte für uns ein Vorteil sein.
Was denken die anderen Leute?
Auch der Arzt soll Zeit sparen und Verwaltungsaufwand minimieren. Insgesamt klingt das alles erstmal nach einer Win-Win Situation. Aber gibt es nicht auch Nachteile? Der Industrieverband Bitcom hat im Mai 2021 bei einer repräsentativen Umfrage festgestellt: Ein Fünftel der Befragten aus der Bevölkerung hat an der Karte gar kein Interesse. 74 Prozent sehen den Vorteil darin, dass Ärzte Diagnosen und Befunde einsehen können, 71 Prozent wollen ihre eigene Krankheitsgeschichte im Blick halten und 64 Prozent sehen die Chance, Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Wer die Karte nicht nutzen möchte, hat in erster Linie Bedenken zur Datensicherheit. Aber auch Eingabefehler und eine aufwändige Beantragung wirken abschreckend.
Und wie steht das mit der Sicherheit?
Was die Sicherheitsstandards angeht, so heißt es, sei dieser mit einer so genannten End-to-End Verschlüsselung der höchste, der technisch derzeit möglich sei, mit individueller Verschlüsselung und einem fast 300 Ziffern langen Zahlencode. Das klingt erstmal „safe“. Wenn ich mir die Argumente der Kritiker durchlese, so kann ich die Bedenken aber auch nachvollziehen. Da geht es in erster Linie darum, dass zentrale Server, auf denen die Patientendaten künftig gespeichert würden, niemals dauerhaft vor Angriffen geschützt werden könnten. Mein Gedanke dazu: Beim Onlinebanking habe ich dieses Problem ja auch irgendwie. Ich persönlich mache es trotzdem. Es ist eine Entscheidung, die jedem selbst überlassen bleiben sollte. Weiter heißt es: Das Arztgeheimnis werde ausgehöhlt. Ich selber habe auch schon erlebt, dass eine allzu geschwätzige Sprechstundenhilfe etwas ins Dorf getragen hat, was da nicht hingehört. Das ist der Faktor Mensch, für den es auch keine 100%-ige Sicherheit gibt. Die Bedenken, dass sich die Gesetzeslage zum Schutz unserer Daten eines Tages mal ändern könnte, sehe ich da persönlich schon eher als Gefahr. Und das Argument, dass die Kosten der ePA für das Gesundheitssystem zu hoch seien, kann ich schlichtweg nicht überprüfen. Ich denke aber, je mehr es nutzen, desto besser wird der Kosten-Nutzen-Effekt sein.
Plötzlich darf es doch den „mündigen Patienten“ geben
Neben den Sicherheitsbedenken ist allerdings auch noch unklar, wie Ärzte künftig für die ePA zu gewinnen seien. Denn auch für sie ist das alles neu und ungewohnt. Auch sind noch nicht alle an das System angeschlossen. Sie müssen ihre fachärztliche Entscheidung auf einer Befundlage treffen, die der Patient selbst gemanagt hat. Wie gut oder wie schlecht wir das alle hinbekommen, hängt sicher auch davon ab, wie gut wir das individuell können. Allerdings soll es ab nächstem Jahr möglich sein, eine Vertrauensperson berechtigen zu können. Ist diese Art der neuen Patienten-Souveränität Fluch oder Segen? Und wem nutzt das am Ende? Woher kommt dieses ungewöhnliche Umdenken im Gesundheitswesen, wo der „mündige Patient“ bisher eher als Fluch der Mediziner gesehen wurde?
Ich mache das – aber nächstes Jahr
Trotz dieser Überlegungen überwiegen für mich die Vorteile und ich möchte die ePA haben – aber erst ab nächstem Jahr, weil die Technik dann mehr Möglichkeiten bietet. Jetzt ist das alles noch zu „basic“. Auf lange Sicht glaube ich aber, dass wir uns der Digitalisierung in all seinen Facetten nicht entziehen können. Warum also nicht damit anfangen und die Vorteile nutzen. Bei den Privaten Krankenversicherungen soll es mit der ePA übrigens erst nächstes Jahr losgehen. Da ist die „Gesetzliche“ ausnahmsweise mal schneller.
Sonja
Wesentliche Vor- und Nachteile auf einen Blick:
Vorteile:
- Hochladen von Notfalldatensatz, Medikamentenplan, Vorsorgevollmacht, Schmerztagebuch etc.
- alle Unterlagen künftig an einem Ort – auch Impfpass, Allergiepass und co.
- einfacher Arztwechsel / alle Infos parat beim Facharzt (auch Röntgenbilder usw.)
- eigene Krankengeschichte / Diagnosen im Blick
- Vermeidung von Doppeluntersuchung
- einfache Zweitmeinung
- volle Kontrolle über Zugriffsrechte
- verbesserte Vorsorge
- größere Sicherheit auch auf Reisen
- anonyme Daten für die Forschung
Nachteile:
- noch nicht alle Ärzte, Krankenhäuser etc. sind angeschlossen
- Registrierung kann noch kompliziert sein
- noch nicht alle Features verfügbar
- potenzielles Datenleck als theoretisches Risiko (bei höchst möglichem Sicherheitsstandard)
- ePA erfordert hohe Selbstverantwortung und Eigenmanagement
- noch unklares Handling
- Unsicherheit in der Bevölkerung und bei Ärzten
Weitere Infos findet ihr unter:
www.bibliomedmanager.de/news/nur-wenige-nutzen-die-epa
www.youtube.com/watch?v=A_aUNZyRJ70
(Gematik digital: Meine Gesundheit – im Rahmen des Digitaltags am 18. Juni 2021)